22.09.2020

Zwischenbilanz aus der Wohnungsnotfallhilfe zur Corona Pandemie

Sehr geehrte Damen und Herren,

Berlin atmet nach den Frühlingsmonaten 2020, die von Einschränkungen und Angst rund um die Pandemie geprägt waren, auf. Das Straßenbild lässt einen ganz normalen Sommer vermuten. Insgesamt scheinen wir die erste Welle gut überstanden zu haben. Geholfen hat sicherlich, dass sich fast alle an die Hygiene- und Pandemiemaßnahmen gehalten haben. Nun steht aber der Herbst und Winter vor der Tür. Teamsitzungen im Park und Spaziergänge mit den Klient*innen werden nur noch bedingt funktionieren. Mit dem Winter kommt nun wahrscheinlich auch eine zweite Welle auf uns zu.
Die Erfahrungen der letzten Monate haben uns die Defizite der Wohnungsnotfallhilfe klar vor Augen geführt. Corona ist die von vielen beschriebene Lupe auf gesellschaftliche Defizite. Die Verwerfungen in der Wohnungsnotfallhilfe wollen wir in diesem Papier analysieren und Forderungen zur Bewältigung der Krise, nicht nur der nächsten Monate, stellen. Als Arbeitskreis Wohnungsnot sehen wir in dieser Krise auch eine Chance, wichtige Lehren für die Zukunft zu ziehen.

Wohnraum bedeutet Gesundheit - die größte Lehre aus der Pandemie

Mittlerweile ist allen klar geworden, dass nur der private Wohnraum ausreichend Schutz für die eigene Gesundheit bieten kann. Egal wie gut unsere Hygienepläne sind, die Kältehilfe und Mehrbettzimmer im ASOG bieten keine positiven Rahmenbedingungen für eine positive menschliche Entwicklung und erst recht keinen ausreichenden Schutz vor einer Pandemie. Wohnungslose Menschen gehören häufig aufgrund von Vorerkrankungen, Alter und körperlicher und seelischer Belastung durch das Leben auf der Straße zur Risikogruppe. Als Stadtgesellschaft brauchen wir daher dringend einen Weg aus den bisherigen Unterbringungssystemen. Das Ziel muss eine nachhaltige Strategie zur Schaffung von günstigem Wohnraum, insbesondere für wohnungslose Menschen, sein.
Die Auswirkungen des Shutdowns waren für Menschen ohne eigenen Wohnraum extrem belastend: Durch die Schließung vieler Tageseinrichtungen, Cafés, Bibliotheken und Einkaufszentren blieb vielen Obdachlosen einzig den Tag im öffentlichen Raum zu verbringen. Sich so an die verordneten Hygienemaßnahmen zu halten, war kaum möglich. Regelmäßiges Händewaschen war erst recht nicht möglich. Die Parole “Seid solidarisch, bleibt zuhause” hinterließ einen faden Beigeschmack für Menschen ohne ein Zuhause. Selbst das Aufsuchen einer öffentlichen Toilette war kaum möglich, was insbesondere für Frauen zu erniedrigenden Erfahrungen führte.
In vielen Bereichen wurde bereits vor der Pandemie deutlich, dass häufig auf die Verdrängung von obdachlose Menschen gesetzt wird. Beispielsweise seien hier Bänke genannt, auf welchen man nicht liegen kann bzw. die nicht zum längeren Verweilen einladen. Viele obdachlose Menschen sind jedoch tagsüber auf einen Aufenthalt im Freien angewiesen und benötigen daher sichere und verdrängungsfreie Räume.

Große Verunsicherung bei allen Beteiligten

Die Einrichtungen der freien Träger der Wohnungsnotfallhilfe (bestehend aus ASOG-Unterkünften, Übergangs- und Krisenhäusern, niedrigschwelligen Einrichtungen und ambulanten Hilfen) berichten von herausfordernden Erfahrungen während der Pandemie. So waren und sind die Nutzer*innen und Bewohner*innen der Einrichtungen stark verunsichert. Viele Angebote wurden deutlich reduziert bzw. wurden ganz geschlossen. Gerade die niedrigschwelligen Einrichtungen waren davon betroffen und konnten die Grundversorgung nur noch rudimentär gewährleisten. Dazu kamen strukturelle Veränderungen in den Teams. Aus Sicherheitsgründen wurden versetzt arbeitende Gruppen gebildet, was punktuelle Mehrbelastungen der einzelnen Mitarbeitenden zur Folge hatte. Auch haben diese durch das Sichten der aktuellen Meldungen und Hygienemaßnahmen und Erstellen/Umsetzen der Hygienepläne eine deutliche Mehrbelastung erfahren. Viele dieser Pläne wurden bis heute nicht abgenommen und es herrscht eine große Unklarheit über die Wirksamkeit der entwickelten Maßnahmen. Die Kolleg*innen der Wohnungsnotfallhilfe wünschen sich hier mehr Rückendeckung aus der Politik und Verwaltung. Immerhin gingen und gehen auch sie ein großes persönliches Risiko bezüglich ihrer eigenen Gesundheit ein.
Die Wohnungsnotfallhilfe beschäftigt in den Nächten oft ehrenamtliche Mitarbeiter*innen, die lediglich über eine Aufwandsentschädigung bezahlt werden. Die oft studentischen Hilfskräfte sind somit prekär beschäftigt. Im Falle einer Schließung der Einrichtung wegen einer Corona-Infektion oder eines Arbeitsausfalls wegen Symptomen, erhalten sie keine Lohnfortzahlung.
Obwohl die meisten Kolleg*innen und Betroffenen den Maßnahmen mit einer großen Akzeptanz und Sensibilität begegneten, kam es insbesondere bei den Betroffenen zu spürbar mehr Krisen bis hin zu Suizidversuchen. Insbesondere in den niederschwelligen Einrichtungen sind die Betroffenen kaum mehr aufzufangen. Ein erneutes vollständiges Wegbrechen der Angebote darf es in Zukunft in dieser Form nicht mehr geben. Wir müssen auch unter Pandemiebedingungen eine psychosoziale Begleitung sicherstellen. Besonders im Fokus stehen dabei Menschen mit besonderen Einschränkungen (Menschen im Rollstuhl, Psychisch Kranke, Familien, jugendliche Obdachlose, uvm.).

Kommunikation der öffentlichen Hand - Langzeitproblem wird zum Luxus in der Krise

Während der Pandemie waren die Sozial- und Gesundheitsämter und die Senatsverwaltung telefonisch schlecht zu erreichen. Insbesondere die Reaktion der Gesundheitsämter bei Verdachtsfällen war und ist viel zu langsam. Die personelle und technische Ausstattung der Ämter ist auch in normalen Zeiten nicht als adäquat zu bezeichnen. Was wir nun erlebt haben, zeigt uns wie die Sparpolitik der letzten Jahre lebensbedrohlich werden kann.
Vereinzelt konnten Ämter durch den persönlichen Einsatz einzelner Kolleg*innen schnelle und unkomplizierte Lösungen auf den Weg bringen. Dafür sind wir sehr dankbar. Der Normalfall waren aber eher standardisierte Emails a là: “Wir sind sicher, Sie geben ihr Bestes”. Gerade bei der Prüfung von Hygieneplänen dürfen die Einrichtungen nicht alleine gelassen werden.
Positiv wurde von allen die unkomplizierte Beantragung der Sozialleistungen betrachtet. Insgesamt wurden im Laufe der Pandemie deutlich mehr digitale Kommunikationsmittel genutzt als vorher. Hier wünschen wir uns ein weiter so in der Zukunft und ein Ende der permanenten Drangsalierungen und fragwürdigen bürokratischen Praxis. Dabei darf nicht aus den Augen verloren werden, dass es Menschen gibt, die aus unterschiedlichen Gründen von der digitalen Teilhabe ausgeschlossen sind. Für diese muss es eine analoge Fallback-Lösung geben.

Fehlende Plätze durch die Pandemie

Um die Abstands- und Hygienemaßnahmen durchzusetzen, reduzierten viele Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe ihre Aufnahmeplätze. Die vier frauenspezifischen Einrichtungen beispielsweise reduzierten ihre Plätze von insgesamt 60 auf 34. Die fehlenden Plätze wurden durch 3 gemischtgeschlechtliche 24/7 Notunterkünfte ersetzt, die teilweise 24/7 geöffnet waren. Da es viele Frauen, aufgrund von Gewalterfahrungen, ablehnen in diese gemischtgeschlechtliche Einrichtungen zu gehen, waren diese Plätze kein adäquater geschlechtssensibler Ersatz.
Bis heute haben wir auch weiterhin keine wirklich barrierefreien Plätze für obdachlose Menschen im Rollstuhl. Generell konnten wir erleben, dass die medizinische Versorgung weiterhin eine Schlüsselrolle spielen wird.

Kostenfaktor Pandemie

Was sind pandemiebedingte Mehrkosten und wie können diese aufgefangen werden? Gerade in Wohneinrichtungen die z. T. Unter Quarantäne standen, mussten Einrichtungen neben Hygienematerial, Essen stellen und eine Versorgung mit Suchtmitteln sicherstellen. Das meiste davon wird nicht über die Kostensätze abgedeckt.
Der Kostenfaktor Pandemie machte sich auch bei den betroffenen Menschen stark bemerkbar. Waren diese nicht im Leistungsbezug, konnten sie kein Geld mehr durch Flaschensammeln und Zeitungsverkäufe generieren. Die Straßen und Bahnen waren leergefegt, die wenigen Menschen die auf den Straßen unterwegs waren, mieden den Kontakt zu allen.
Beeindruckend war die große Solidarität aus der Zivilgesellschaft. Hier kam es zu vielen Unterstützungsmaßnahmen für Einrichtungen und durch die Gabenzäune auch für die Betroffenen auf der Straße.
Da die Pandemie noch nicht vorüber ist, fordern wir daher:

  • Nutzung der leerstehenden Hotels und Ferienwohnungen zur pandemiegerechten Unterbringung obdachloser Menschen
  • Diskriminierungsfreie Nutzung der ASOG Unterbringungen in den zur Verfügung stehenden Hotels
  • Mobile Unterstützungsteams zur Begleitung der Hotels und Ferienwohnungen
  • Räumlichkeiten für niederschwellige Hilfen. Dazu gehört auch die Öffnung der Bäderbetriebe zur Sicherstellung der Hygieneversorgung
  • keine finanzielle Kürzungen insbesondere bei niederschwelligen Angeboten der Wohnungslosenhilfe
  • jede Einrichtung braucht einen klaren und erreichbaren Ansprechpartner im Gesundheitsamt, mit dem bereits jetzt die Hygienekonzepte besprochen werden
  • Eine Taskforce in der Senatsverwaltung die gut erreichbar alle Fragen bezüglich Corona bearbeitet
  • ein klarer und verbindlicher Umgang mit Verdachtsfälle vom Melden, über Testung bis hin zur Unterbringung zu jeder Zeit des Tages und der Woche
  • konkrete Angaben zu Thema Schutzausrüstung, was gehört dazu, wann wird sie angewendet und wer trägt die Kosten
  • Die Sicherstellung von analoger Beratung und Hilfekonferenzen in allen öffentlichen Ämtern
  • Gestaltung öffentlicher Räume zum Nutzen aller, Verzicht auf defensive Architektur
  • Eine schnelle Umsetzung der Leitlinien der Wohnungsnotfallhilfe. Wir haben keine Zeit zu verlieren - es geht um die Rettung von Menschenleben
  • eine klar definierte Exit-Strategie aus der Kältehilfe und dem ASOG System, kein weiterer Ausbau dieser Unterbringungsmöglichkeiten sondern Bereitstellung und Schaffung echter Alternativen, welche den betroffenen Menschen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen

Als Arbeitskreis Wohnungsnot sehen wir insbesondere die nun anstehende Strategiekonferenz als idealen Ort um die weitere Strategie für die nächsten Monate zu besprechen. Wir, die Verbände und die Betroffenenvertretungen stehen bereit um den Diskurs konstruktiv mitzugestalten um gemeinsam durch die Krise in eine bessere Zukunft kommen zu können.
mit freundlichen Grüßen

Ihre Arbeitsgruppe Corona im Auftrag des Arbeitskreises Wohnungsnot

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