Juni 2022

Stellungnahme zur Weiterentwicklung der Hilfen gem. §§ 67, 68 ff. SGB XII

Die Hilfen gem. §§ 67, 68 ff. SGB XII sind das wichtigste Instrument Berlins im Kampf gegen Wohnungsnot. Die Sozialarbeiter:innen im Bereich verhindern seit Jahren erfolgreich Wohnungsverluste oder begleiten Menschen aus der Wohnungsnot heraus. Die zugrundeliegenden Leistungstypenbeschreibungen wurden in den letzten Jahrzehnten nicht signifikant verändert, die Lebenswelt der Menschen in Wohnungsnotfallsituationen veränderte sich jedoch gravierend. Dies drückt sich unter anderem durch deutliche Verwerfungen auf dem Wohnungsmarkt aus. Benachbarte Hilfesysteme wie die Leistungen zur Teilhabe haben sich reformiert und den neuen Gegebenheiten angepasst. Auch in der Fachwelt der Wohnungsnotfallhilfe gibt es bereits seit mehr als zehn Jahren Diskussionen, wie die Wohnungsnotfallhilfe und die Hilfen gem. §§ 67, 68 SGB XII weiterentwickelt werden können. Die Erfahrungen aus dem Housing First, die Diskussion um den Masterplan 2030 (mit dem Ziel der Beendigung der Wohnungsnot) befördern den aktuellen Diskurs und zwingen uns zum Handeln. Gleichzeitig werden mit dem Planmengenverfahren und der 75 % Basiskorrektur die Hilfen gem. §§ 67, 68 SGB XII finanzpolitisch gedeckelt. Als Opfer dieser Politik mussten in den letzten Jahren bereits zwei Krisenhäuser nach §§ 67, 68 SGB XII schließen.

Als AK-Wohnungsnot wollen wir die von der QSDund dem Deutschen Verein angestoßene Debatte aufnehmen und erneut eine scharfe Reform des Bereichs fordern.

Das Planmengenverfahren versus Rechtsanspruch

Das Planmengenverfahren in der aktuellen Form setzt Fehlanreize in den Haushalten der Bezirke. Durch Maßnahmen in der Basiskorrektur sind Bezirke in der Lage, Geld für den jeweiligen Bezirkshaushalt zu verdienen (siehe dazu Papier LIGA Berlin3). Weniger Hilfen bedeuteten mehr Geld für die bezirklichen Haushalte. Dem entgegen steht ein individueller gesetzlicher Anspruch für Menschen in Wohnungsnotfallsituationen. In der Praxis werden häufig durch einen hochschwelligen Zugang zu den Hilfen nach §§ 67, 68 SGB XII und einer willkürlichen Ablehnungspraxis Hilfen verwehrt. So hat sich die Zahl der ASOG-Unterbringungen in dem letzten Jahrzehnt verdreifacht, während die Zahl der 67er Hilfen stagniert. Auch in der Analyse der bezirklichen Belegung der Krisenhäuser durch die Senatsverwaltung zeigt sich eine dramatisch ungleiche Bewilligungspraxis der Bezirke. Wir sprechen uns daher klar gegen finanzpolitische Fehlanreize in der Finanzierung einer gesetzlichen Sozialleistung aus.

Wettbewerb durch Vergütung oder durch Qualität?

Der Senat drängt die Träger der sozialen Arbeit zunehmend in Einzelverhandlungen. Dies führt bereits jetzt zu einer Spanne beim Entgelt bei den Tagessätzen innerhalb eines Leistungstyps von bis zu 15 €. Zusammen mit dem Planmengenverfahren bewegen wir uns auf einen rein finanziellen Wettbewerb zwischen den Trägern zu. Die Qualität der Betreuung wird dabei zwangsläufig auf der Strecke bleiben. Das Ausspielen der Träger bei Entgeltverhandlungen, bzw. bei der Bewilligungspraxis muss daher ein Ende haben. Es muss aus unserer Sicht weiterhin um die Menschen in Wohnungsnotfallsituationen und um die Sozialarbeitenden in ihren Diensten gehen. Die Verwirtschaftlichung sozialer Dienste wird über kurz oder lang auch auf dem Rücken der Sozialarbeitenden ausgetragen.

Fachkräftequote

Die Problemlagen und sozialen Systeme, in denen sich die Wohnungsnotfallsituationen abspielen, werden zunehmend komplexer. Derzeit sind ausschließlich Sozialarbeitende anerkannte Fachkräfte. Die Teilhabehilfen, die ISP-Projekte und das Housing First zeigen, dass ein multiprofessionelles Team z. B. mit Therapeut:innen und Erfahrungsexpert:innen eine gute Voraussetzung für eine Bewältigung dieser Krisen sind. Bei der Qualitätssicherung kann neben der Fachkräftequote auch eine Erfahrungsquote helfen.

Wohnraumversorgung nicht weiter individualisieren - Wohnraumversorgung ist Grundversorgung!

Ziel der Hilfen gem. §§ 67, 68 ff. SGB XII muss immer sein, Wohnraum zu sichern oder schnellstmöglich Menschen mit neuem Wohnraum zu versorgen.

Die Hilfen gem. §§ 67, 68 ff. SGB XII bestehen bezüglich des Umgangs mit Wohnraum aus drei ungleich großen Säulen: aus der Prävention vor dem Wohnraumverlust, der Wohnraumversorgung sowie zu einem kleinen Teil einer Orientierung und Stabilisierung in Trägerwohnungen. Housing First Berlin zeigt, dass es in Berlin kein Stufenmodell braucht. Der klassische Zugang zu Wohnraum nur nach Prüfung einer wie auch immer gearteten "Wohnfähigkeit" entspricht nicht dem Menschenrecht Wohnen. Niemand sollte sich "bewähren" müssen, bevor eine Wohnung angemietet werden kann. Personen in Wohnungsnotfallsituationen sollen selbstverantwortlich entscheiden, wann sie die Verantwortung für eine Wohnung übernehmen wollen.

Viele Menschen verzweifeln derzeit psychisch am aktuellen System: WBS beantragen, Wohnungsbewerbungsmappe erstellen, Schulden bearbeiten, M-Schein beantragen und intensive Wohnungsbemühungen nachweisen - um am Ende trotzdem mit leeren Händen dastehen.

Es braucht daher einen berlinweiten Pool von Wohnungen für Menschen in Wohnungsnotfallsituationen, über den transparent Wohnung vergeben werden. Das Marktsegment bietet sich dafür an, muss aber ausgebaut und zugänglicher gestaltet werden. Gleichzeitig brauchen wir Belegungsrechte für die Fachstellen. Es muss gleichzeitig Teil des Bündnisses für bezahlbares Wohnen werden. Mit Hilfe der privaten Anbieter können die angepeilten 2500 Wohnungen jährlich sehr schnell erreicht werden.

Wenn wir in die Lage kommen, die Hilfen gem. §§ 67, 68 ff. SGB XII frühzeitig mit Wohnraum anbieten zu können, nähern wir uns auch dem Housing First Prinzip des Masterplans stark an.

Flexibilisierung – mehr als eine Phrase

Die Hilfeform orientiert sich aktuell zu stark an der Wohnform. Ein zeitgemäßes Hilfesystem sollte frühzeitig präventiv greifen und je nach Komplexität der Problemlagen die Unterstützungsleistungen skalieren können. Das könnte ähnlich der Hilfebedarfsgruppen in der Teilhabehilfe umgesetzt werden. Wir betrachten daher das Modell des QSD als gute Lösung für die anstehende Flexibilisierung der Hilfen.
Hilfen haben keinen linearen Verlauf. Alle Hilfen fangen aber mit einer intensiven Clearingphase an. Diese sollte möglichst schnell und unbürokratisch beginnen. Personen, die die Motivation haben, etwas zu ändern, müssen genau an diesem Zeitpunkt abgeholt werden. Ein schneller Beziehungs- und Vertrauensaufbau ist imminent wichtig, um einen guten Überblick über die komplexe soziale Situation der besonderen Lebenslage zu erhalten.
Menschen, die um Hilfe bitten, sich in besonderen Lebenslagen befinden und soziale Schwierigkeiten haben, müssen sofort Hilfe bekommen! Der Verweis auf andere und meist hochschwellige Hilfen führt dazu, dass besonders schutzbedürftige Betroffene für lange Zeit in den niedrigschwelligen Notunterkünften verbleiben. Diese „entweder- oder“- Praxis ist weder rechtlich tragbar noch konstruktiv für die Menschen in Wohnungsnot. Es bedarf einer konsequenten Umsetzung des Fachstellenmodells in Berlin und die Akzeptanz für den Wunsch der selbst gewählten Hilfeform.
Hilfebedarfe enden auch nicht genau mit dem Ende der Kostenübernahme oder nach spätestens anderthalb Jahren. Auch eine unkomplizierte Nachbetreuung nach Ende der Maßnahme gibt den Personen Sicherheit und ist gelebte Prävention.
Flexibel sollte auch die Erreichbarkeit der Behörden und die Zusammenarbeit mit den Leistungserbringern geregelt sein. Der Zugang sollte neben einer persönlichen Vorsprache oder dem Postweg auch per Telefon, Mail und Videokonferenz möglich und sichergestellt sein. Zudem muss die Erreichbarkeit der Behörden auch in Krisenzeiten gewährleistet bleiben.

Fazit – 2030 ist machbar, aber nicht zum Nulltarif

Menschen sind vielfältig. Deswegen sollte das Hilfesystem vielfältig sein, um für alle ein passendes Angebot bereitstellen zu können. Die Hilfen gem. §§ 67, 68 ff. SGB XII sind und bleiben das wichtigste Instrument zur Beendigung der Wohnungsnot in Berlin, dazu gehören für uns als Arbeitskreis Wohnungsnot insbesondere die Krisenhäuser mit ihren unmittelbaren und schnellen Hilfen!

Wir wollen, dass sich der „67er“ den Herausforderungen unserer Zeit stellen kann und fit gemacht wird für die veränderten Rahmenbedingungen und sprechen uns klar für einen offenen Hilfezugang für alle Betroffenen, unabhängig ihrer Herkunft oder Familiensituation – einzig angepasst an ihrem jeweiligen Hilfebedarf, aus. Auch die positiven Erfahrungen des Housing First wollen wir nutzen und in die Weiterentwicklung des „67er“ transportieren.

Als AK Wohnungsnot nehmen wir den Masterplan, den Berliner Koalitionsvertrag, die Bundespolitik und das EU Parlament sehr ernst. Sie alle wollen bis 2030 ein Berlin ohne Wohnungsnot. Wir fordern daher, nehmt Eure Ziele ernst, nehmt die Menschen in Wohnungsnot ernst – gebt uns die Möglichkeiten das Ziel zu erreichen.

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