Februar 2021

Der Weg von der Straße - Die Wohnungsnot bis 2030 in Berlin beenden

Mit seinem Entschließungsantrag hat das Europaparlament am 23.11.2020 die Weichen
zur Beendigung der Wohnungsnot in der EU gestellt. Auch die Berliner Sozialsenatorin,
Frau Elke Breitenbach, spricht seit der letzten Strategiekonferenz von der "Beendigung
der Obdachlosigkeit" in Berlin. Mitten in der zweiten Corona Welle erleben wir damit
vielleicht die Kehrtwende im Kampf gegen die Wohnungsnot in Berlin. Als Arbeitskreis
Wohnungsnot wollen wir das Problem Wohnungsnot als Ganzes angehen und nicht mehr
unterscheiden zwischen Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit.

In der Sozialen Arbeit gilt das geflügelte Wort der "Krise als Chance". Wir glauben daher
daran, gemeinsam mit allen Akteur*innen diesen Kampf in Berlin gewinnen zu können.

Das Masterplanverfahren - A roadmap home

In seinem Entschließungsantrag zur Beendigung der Wohnungsnot in der EU fordert das
Europaparlament die Entwicklung "langfristiger, gemeinschaftsbasierter, auf die Bereitstellung
von Wohnraum ausgerichtete, integrierte nationale Obdachlosenstrategien".

Das EU Mitglied Finnland geht diesen Weg bereits seit 1985 und gilt allgemein in der Bekämpfung
der Wohnungsnot als Vorreiter. Vor allem der politische Wille war in Finnland
entscheidend für den Erfolg in und um Helsinki. Die nationale Regierung Finnlands hat
diesem politischen Willen mit dem PAAVO4 Programm und weiteren Gesetzen einen rechtlich
bindenden Rahmen gesetzt. In den letzten Jahren wurde dabei auch verstärkt auf
das Housing First Konzept gesetzt.

Für Berlin brauchen wir genau das. Ein Programm, das die Überwindung der Wohnungsnot
(für unfreiwillig wohnungslose Menschen) in den Fokus rückt. Dabei soll die Prävention, die Unterstützung akut wohnungsloser Menschen, sowie deren Wohnraumversorgung
ganzheitlich gedacht werden und zu einem Paradigmenwechsel in der Wohnungsnotfallhilfe
führen.

Mit den neuen Leitlinien ist ein erster Schritt getan. Zusammen mit deren Umsetzung
und weiteren Schritten bezüglich einer wirklichen Beendigung der Wohnungsnot können
sie das Fundament dieses Programms legen. Die Entwicklung des Masterplans sollte
dabei unter Einbezug aller wichtigen Akteurinnen, inklusive der Betroffenen, stattfinden.
Auch Expert
innen aus weiteren gesellschaftlichen Bereichen mit einem frischen
Blick "out of the box" sollten beteiligt werden.

Darüber hinaus braucht die erfolgreiche Umsetzung des Masterplans weitere Rahmenbedingungen:

  • Eine Ansiedlung des Programms beim*bei der Regierenden Bürgermeister*in
    Berlins. Auf diese Weise wird der Querschnittsaufgabe das notwendige politische
    Gewicht verliehen und die Involvierung verschiedener Verwaltungen sichergestellt
  • Die Erstellung eines nachvollziehbaren "Fahrplans" mit evaluierbaren Zwischenschritten
    mit dem klaren Ziel der Beendigung der Wohnungsnot
  • Eine zentrale Task Force zur Umsetzung des Masterplans, angesiedelt bei der
    Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales
  • Ein eigenes Budget zur Umsetzung des Masterplans
  • Einen starken partizipativen Charakter des Programms. Dazu zählt neben dem
    Einbezug der Bezirke, Träger und Gremien vor allem die Mitarbeit von Betroffenen
  • Eine Flexibilität im Masterplan um auf aktuelle Entwicklungen eingehen zu können
    und die Fähigkeit der Weiterentwicklung zu erhalten

Wir werden im Folgenden unsere ersten Ideen für einen Masterplan hervorheben:

1. Wohnraumversorgung als zentraler Bestandteil des Masterplans

Die Schaffung von erschwinglichem Wohnraum ist der Schlüsselfaktor zur Beendigung
der Wohnungsnot in Berlin. Die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften stellen dabei
die größte Säule dar. Die Zielmarke bis 2030 sollte die Schaffung von 500.000 kommunalen
Wohnungen
in Berlin sein.

Der Wohnungsbau darf aber nicht nur auf den Schultern der kommunalen Wohnungsbaugesellschaften
lasten oder sich auf Randlagen konzentrieren. Wir sollten alle Ressourcen
mobilisieren und Partner*innen in die Lage versetzen, überall günstigen Wohnraum anbieten
zu können. Dazu gehören Bauförderprogramme und eine Flexibilisierung der
Bauauflagen für soziale Träger oder Bauträger die explizit für wohnungslose Menschen
Wohnraum schaffen. Das Budget sollte sich an den jährlichen Kosten der Unterbringung
nach ASOG orientieren. Zur Koordinierung dieser Maßnahmen brauchen wir eine zentrale
öffentliche Anlaufstelle zur sozialen Wohnraumversorgung
. Diese sollte neben
der Beratung und Unterstützung der Bauträger auch die Wohnungen des bisherigen und
in Zukunft aufzustockenden Geschützten Marktsegments verwalten und transparent
vergeben.

Darüber hinaus brauchen wir ein stadtweites Konzept um spekulativen Leerstand zu
verhindern und effektiv zu sanktionieren. Leerstand darf sich nicht lohnen!
In enger Kooperation mit dem Land Brandenburg sollten Wohnraumreserven in der Metropolregion
Berlin-Brandenburg besser genutzt werden.

2. Prävention von Wohnraumverlusten

Neben der Schaffung von Wohnraum muss vordergründiges Ziel des Masterplans sein,
Wohnungslosigkeit, wo möglich, zu verhindern. Wohnungsräumungen aufgrund von Mietschulden
dürfen nicht mehr in die Obdachlosigkeit führen. Zu einem guten Räumungs- und
Mietschuldenmanagement
gehört auch immer eine sozialpädagogische Begleitung.
Familien mit Kindern dürfen in einem ersten Schritt nicht mehr ohne Ersatzwohnraum
geräumt werden. Bei Mietschulden sollten umgehend Sozialarbeiter*innen einbezogen
werden und gemeinsam mit den Betroffenen an der Lösung der Situation arbeiten.
Die Leitlinien weisen in Fragen der Prävention bereits heute den Weg und müssen
schnellstmöglich umgesetzt werden. Dazu gehört, dass die zentralen Fachstellen die
Möglichkeiten bekommen müssen, ihrem präventiven Auftrag in voller Gänze nachkommen
zu können.

Auch brauchen wir eine stärkere Orientierung am Sozialraum. Intakte Nachbarschaften
mit einem guten sozialen Angebot bieten einen zusätzlichen Schutz vor Wohnraumverlusten.
Quartiersmanagement, Bildungs- und Kultureinrichtungen und Einrichtungen der Jugendhilfe
betrachten wir daher als wichtige weiche Faktoren im Kampf gegen die Wohnungsnot.

3. Positive Rahmenbedingungen schaffen

Die Corona-Pandemie hat uns zahlreiche und lange bestehende Probleme hart vor Augen
geführt. Zum einen mussten sich auch die Letzten eingestehen, dass Massenunterkünfte
keine menschenwürdige Unterbringung darstellen, zum anderen hat sich gezeigt, wie
wichtig eine modern aufgestellte Verwaltung ist. Dazu gehören neben einem gesunden
und leistungsfähigen Personalschlüssel auch die Digitalisierung der Ämter und die
Kommunikation mit und unter diesen. Berlin hat sich an vielen Stellen als nur wenig
krisenfest
erwiesen. Das sollten wir uns eingestehen und überlegen wie wir uns resilienter
für die Zukunft aufstellen können.

Zur verbesserten Digitalisierung zählen wir auch eine optimierte Vernetzung und Darstellung
des Hilfesystems
.

Mit der Nacht der Solidarität wurde eine erste Grundlage für eine bessere Datenbasis geschaffen.
Allerdings ist die Datenqualität und Aufbereitung in den Bezirksämtern bis heute
teilweise erschreckend. Die Umsetzung einer seit Jahren geforderten und im Rahmen
einer AG der Strategiekonferenzen zur Wohnungslosenhilfe Berlin bereits konkret skizzierten
berlinweiten Wohnungsnotfallstatistik ist daher mehr als überfällig.

Die Betroffenen in den Fokus rücken!
Wir müssen anfangen unseren Adressatinnen, Gäste und Klientinnen zuzuhören. Sie
sind die Expertinnen ihrer Lebenswelten und sollten in die (Weiter-)Entwicklung der Angebote
einbezogen werden. Dazu müssen wir aber eine Atmosphäre schaffen, in der sich
die Menschen trauen etwas zu sagen und spüren, dass sie gehört werden. Wir brauchen
daher ein umfangreiches Partizipationskonzept, sowie eine unabhängige Beschwerdestelle
zum Empowerment der Betroffenen.
Die künstliche Trennung zwischen den verschiedenen Gruppen muss in Zukunft aufgelöst
werden. Die Bezeichnungen *Wohnungslos mit oder ohne Fluchthintergrund oder EU-Bürger

innen* sollten im großen Ziel der Beendigung der Wohnungsnot keine Rolle mehr
spielen. Wir müssen dafür sorgen, dass alle Hilfesysteme (Wohnungsnotfallhilfe, Jugendhilfe,
Psychiatrie, Anti-Gewalt-Projekte, etc.) kooperativ Hand in Hand gehen und in der
Lage sind auf unterschiedliche Lebenssituationen flexibel eingehen zu können (u. a. mit
geschlechtsspezifische Angeboten).

4. Unterbringungen und Kältehilfe neu strukturieren und langfristig abschaffen

Die bisherige Kältehilfe hat sich in den letzten Jahren als nicht mehr zeitgemäß herausgestellt.
Sie steht sinnbildlich für die Verwaltung von Armut in unserer Stadt. Mit den
24/7-Einrichtungen wurden in der Not der Corona-Pandemie Alternativen geschaffen.

Hier können Menschen ganzjährig und unbürokratisch zur Ruhe kommen und angemessen
beraten werden. Wir sollten dieses Angebot verstetigen und als Türöffner in eine Unterbringung
nach ASOG7 oder langfristig über Housing First oder die Hilfen nach §§ 67 ff.
SGB XII in die eigene Wohnung etablieren. Vor allem die Niedrigschwelligkeit der
24/7-Angebote heben wir als Qualität hervor. Die Organisation einer modernen Kältehilfe
sollte zentral durch die Senatsverwaltung geschehen.

Mit dem GStU Prozess sind die Weichen für Verbesserungen bei den ASOG Unterbringungen
gestellt. Dieser Prozess muss beschleunigt werden. Wir betrachten die Unterbringungen
als Brückenangebot hin zu mehr mietvertraglich abgesichertem Wohnraum.
Im Prozess sollte ebenfalls geprüft werden, welche bisherigen Unterbringungen als mietvertraglicher
Wohnraum dienen könnten. Sukzessive sollten diese Unterbringungen in
(wenn nötig sozialarbeiterisch begleiteten) Wohnraum umgewandelt werden. Bis dahin
sollte es keine Unterbringung ohne Unterstützungsangebot mehr geben. Die Unterbringung
nach ASOG dient einzig der Vermeidung einer akuten unfreiwilligen Obdachlosigkeit.
Die Regelversorgung bleibt für uns immer die eigene Wohnung. Daher sollte
jeder Mensch nach spätestens einem Jahr ein Wohnungsangebot erhalten.

5. Housing First als Fundament des Masterplans

Die zwei Berliner Housing First-Modellprojekte zeigen bereits nach zwei Jahren überzeugende
und vielversprechende Ergebnisse. Vor allem die schnelle und unkomplizierte Vermittlung
in eigenen Wohnraum in Verbindung mit einem freiwilligen und flexibel anpassbaren
Unterstützungsangebot wird von den Nutzer*innen als sehr positiv bewertet. Housing
First sollte daher ein fester Bestandteil des Masterplans werden und dauerhaft in das
Berliner Hilfesystem etabliert werden.

Gemeinsam mit den reformierten und dadurch gestärkten Hilfen nach §§ 67 ff. SGB XII
können wir so ein differenziertes Hilfeangebot schaffen und auf unterschiedlichste Lebenslagen
reagieren. Wir glauben, dass beide Hilfeangebote voneinander profitieren und
sich gegenseitig befruchten können.

Klar ist jedoch: Es muss entsprechender Wohnraum zur Verfügung stehen, um den noch
wohnungslosen Menschen eine neue Perspektive bieten zu können.

Fazit - Wohnen ist ein Menschrecht

Die Erstellung der Leitlinien war ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Diese
nun um ein klares Ziel, die Beendigung der Wohnungsnot, zu ergänzen ist nur folgerichtig.
Derzeit mangelt es noch an der Umsetzung der Leitlinien. So werden EU Bürger*innen
ohne Leistungsbezug weiterhin nur sporadisch von den zuständigen Sozialämtern
untergebracht. Die angekündigte Evaluation der Umsetzung ist daher dringend angezeigt.
Wir betrachten die Corona-Pandemie als Fanal für Veränderungen und Reformen, die wir
in den letzten Jahren vor uns hergeschoben haben. Alle Beteiligten wollen weg von der
reinen Armutsverwaltung. Der nun anstehende Prozess wird kein einfacher sein, er wird
auch nicht ohne schwierige, aber wichtige Diskussionen auskommen. Wir wollen mit diesem
Papier einen Anstoß für diesen Prozess geben, an dessen Ende im Jahr 2030 eine reformierte
Wohnungsnotfallhilfe steht, die für alle Beteiligten bessere Bedingungen bieten
wird. Sozialarbeitende die Armut nicht mehr nur verwalten müssen, moderne öffentliche
Verwaltungen mit ausreichenden Handlungsmöglichkeiten und ehemals wohnungslose
Menschen in eigenen Wohnungen.

Ihre Arbeitsgruppe Masterplan des Arbeitskreises Wohnungsnot

Weitere Informationen